Dieses Urteil zum betrieblichen Eingliederungsmanagement im Zusammenhang mit der Kündigung eines Schwerbehinderten in der Probezeit hat es wirklich in sich und sollte deshalb große Aufmerksamkeit bei den BEM-Beauftragten und Personalern in den Unternehmen verdienen. Das Arbeitsgericht Köln stellte mit dem Verweis auf das Unionsrecht die bislang vorherrschende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) infrage.
Kein BEM-Verfahren in der Probezeit: schwerbehinderter Mitarbeiter mit frühkindlichen Hirnschaden
Bislang galt: Der Kündigungsschutz, einschließlich für schwerbehinderte Personen, tritt erst nach sechs Monaten in Kraft. Das Arbeitsgericht Köln entschied in einem konkreten Fall nun anders.
Zum vorliegenden Fall: Der Kläger war aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens schwerbehindert. Bei ihm war ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 anerkannt worden. Er wurde im öffentlichen Dienst im Bereich des Bauhofs angestellt. Nach vier Monaten wurde er wegen eines Kreuzbandrisses, den er sich beim Fahrradfahren zuzog, krankgeschrieben.
Schwerbehinderter Mitarbeiter wird nach Anhörung der Interessenvertretung in Probezeit ohne BEM-Verfahren gekündigt
Der Arbeitgeber kündigte ihn nach Anhörung des Personalrats, der Schwerbehindertenvertretung sowie der Gleichstellungsbeauftragten in der Probezeit. Alle drei Stellen erhoben keine Einwände gegen die geplante Kündigung. Die Kündigung erfolgte aufgrund der Einschätzung des Arbeitgebers, dass der Kläger sich in der Probezeit nicht bewährt und sich nicht ausreichend ins Team eingefügt habe bzw. nicht ihren Erwartungen entsprochen habe.
Der Kläger gab an, aufgrund seiner Behinderung nicht so konstant und konzentriert arbeiten zu können und auch nicht so lernfähig zu sein. Er benötige feste Abläufe und einen einfühlsamen Vorgesetzten. Zu strenge Kritik mache ihn nervös und führe zu weiteren Fehlern. In seinen beiden letzten Arbeitsstationen habe er jedoch gut funktioniert.

Trotz fehlendem Kündigungsschutz in der Probezeit war die Kündigung des Schwerbehinderten wegen fehlendem BEM-Verfahren unwirksam
Obwohl der Kündigungsschutz grundsätzlich erst nach Verlauf von sechs Monaten eintritt und die Kündigung des Klägers zuvor erfolgte, erklärte das Arbeitsgericht Köln die Kündigung dennoch für unwirksam. Das Gericht bezog sich auf den Hinweis des Klägers, dass der Europäische Gerichtshof bereits 2022 entschieden hatte, dass Arbeitgeber vor einer Kündigung während der Probezeit schwerbehinderter Mitarbeiter alternative Einsatzmöglichkeiten prüfen müssen (vgl. EuGH, 10.2.2022 – C-485/20). Da diese Bemühungen hier ausblieben, habe der Arbeitgeber gegen seine Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen verstoßen.
Nicht erfolgtes betriebliches Eingliederungsmanagement bei schwerbehinderten Menschen löst Vermutung einer Benachteiligung aus
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts begründet der Verstoß gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung aufgrund der Behinderung. Diese Pflichtverletzungen können den Anschein erwecken, dass der Arbeitgeber nicht an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen interessiert ist (BAG, 14.6.2023 – 8 AZR 136/22).
Kein BEM: Kündigung des Schwerbehinderten verstößt gem. § 134 BGB i. V. m. § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gegen gesetzliches Diskriminierungsverbot
Das Gericht kritisierte, dass der Arbeitgeber keine präventiven Maßnahmen gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX ergriffen habe. Als der Arbeitgeber bemerkte, dass der Kläger seinen Erwartungen nicht entsprach, hätte er die Maßnahmen ergreifen müssen, um die Schwierigkeiten zu lösen. Er hätte das Integrationsamt und die Schwerbehindertenvertretung einschalten müssen. Da er dies nicht getan habe, deute dies darauf hin, dass die Schwerbehinderung die Ursache für die Kündigung sei. Nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts besteht jedoch keine Pflicht zu präventiven Maßnahmen in den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses. Das Arbeitsgericht Köln nahm dies zur Kenntnis, bezog sich dann aber auf eine unionsrechtskonforme Auslegung der Regelungen auf die der Kläger hingewiesen hatte und begründete dies ausführlich.

Betriebliches Eingliederungsmanagement: EU-Recht verpflichtet zum BEM-Verfahren von Schwerbehinderten auch in der Probezeit
Zusammenfassend: Das Arbeitsgericht Köln entschied mit Urteil vom 20.12.2023 (Aktenzeichen: 18 Ca 3954/23), dass die Kündigung gegen das Diskriminierungsverbot des § 164 Abs. 2 SGB IX verstößt und daher unwirksam ist. Es wurde festgestellt, dass der Arbeitgeber in dem vorliegenden Fall auch während der Probezeit verpflichtet war, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (§ 167 SGB IX) durchzuführen. Zitat aus dem Urteil: „Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Vorgängernorm (vgl. Urteil vom 21. April 2016 – 8 AZR 402/14 –, BAGE 155, 61-69, Rn. 27 ff.) ist der Arbeitgeber auch während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Dies ergibt die unionsrechtskonforme Auslegung der Norm.“
Über den Autor
Der Autor ist Absolvent eines MBA-Studienganges und verfügt über ein Diplom der Betriebswirtschaftslehre und der Pädagogik. Mehrjährige Ausbildung und Tätigkeit in der Krisenintervention, Leiter einer Einrichtung sozialmedizinischer Nachsorge, verschiedene Positionen als Geschäftsführer und Führungskraft, 10 Jahre lang ehrenamtlicher Richter am Arbeitsgericht und seit 2012 Geschäftsführer und Gesellschafter der 2benefit GmbH Personalberatung aus Kassel.
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